Erschienen im Heft 3 der Revolver, Zeitschrift für Film, 1998
Eine Maschine funktioniert, eine Theorie, ein Konstrukt. Ein Mensch, der nur funktioniert, gehört zum Traurigsten, was auf dieser Welt anzutreffen ist. Genauso verhält es sich mit einer Geschichte. Die persönliche Sicht des Autors ist ausschlaggebend. Je individueller und genauer die Erzählung, desto universeller wird auch ihr Inhalt.
In der Kunstakademie habe ich gelernt, dass jedes inhaltliche Ziel eine bestimmte Form der technischen Umsetzung fordert. Man wird eine kleine Bleistiftzeichnung sicher nicht auf einem großen neongelben Passepartout ausstellen, weil dieser Hintergrund nur vom Wesentlichen ablenkt. Ich habe den Eindruck, dass die filmischen Mittel unabhängig von ihrem Sinn innerhalb der Erzählung über eine so große eigene Wirkung verfügen, dass sie oft wie dieses neongelbe Passepartout funktionieren und die Qualitäten der Zeichnung dadurch unbewertet bleiben. In der Zeichnung erkenne ich einen Menschen. Im Passepartout bemerke ich lediglich die Wirkung einer Farbe.
Die Einschätzung „Es funktioniert“ zeigt, wie sehr die Reaktion der Zuschauer zum alleinigen Maßstab geworden ist. Dabei öffnet die Anteilnahme des Zuschauers doch erst die Tür zu allen weiteren Ebenen des Werkes. Diese Tür wird in vielen Filmen schwungvoll aufgestoßen. Weitergehen lohnt nicht, denn dahinter herrscht meist gähnende Leere. Menschen, Kriege, Tragödien als spektakuläre McGuffins rasender Effektfeuerwerke. „Heute geht alles so schnell beim Filmemachen, dass die Welt nicht zu ihrem Recht kommt. Sie will, dass man ein bisschen in ihr lebt, sie hat so viel zu bieten, und man ist einfach ein wenig zu schnell“, sagt David Lynch. Die Geschichten sind meist durchaus phantasievoll und mitreißend gebaut. Die Macher haben die Filmgeschichte studiert. Sie kennen jeden Trick, lassen den Zuschauer nicht aus den Augen, dirigieren jede Emotion mit Zuckerbrot und Peitsche. Und doch sind diese Filme wie Drogen, die mir keine andere Wahl lassen als sie wieder und wieder zu nehmen. Zwischen den goldenen Schüssen bleibt schmerzhaftes Nichts.
Alfred Hitchcock beschreibt im Gespräch mit Francois Truffaut einen Film mit der Grundidee „Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Stadt“: „Das ist ein geschlossener Zyklus, angefangen bei den noch taufrischen grünen Gemüsen bis zum Ende des Tages, wenn der Dreck aus der Kanalisation kommt. An der Stelle wird zum Thema der zyklischen Bewegung, was die Menschen mit den guten Dingen machen, und das allgemeine Thema wird der Verfall der Menschheit. Man muss die ganze Stadt durchqueren, alles sehen, alles filmen, alles zeigen.“ Alles sehen, darin liegt für mich die allgemeine Voraussetzung, dann kann ich für mich produktiv auswählen, die wesentlichen Aspekte für die Darstellung meines Anliegens sammeln. Wenn es mir nur um den Kassenerfolg geht, werde ich mich darauf beschränken, das Nötigste zu zeigen. Was darüber hinaus geht, zahlt sich in dieser Rechnung nicht aus. Wie im Eiskunstlauf gibt es auch in der Kunst Pflicht und Kür. Um sich gut zu verkaufen, reicht es, die Pflicht zu beherrschen. Um besser als alle anderen zu sein, muss man in der Kür seine ureigensten Gefühle und Werte preisgeben. Nur dann trifft ein Film mitten ins Herz.
Benjamin Heisenberg
Schreibe einen Kommentar